Es ist wie bei der Körpertemperatur des Menschen: Zwei Grad machen den Unterschied aus zwischen Alltag und Lebensgefahr. 37 Grad Körpertemperatur ist unser Normalzustand, oberhalb von 39 Grad spricht die Medizin von hohem Fieber. In der Regel verschreiben Ärzt_innen dann fiebersenkende Medikamente. Denn wenn das Fieber weiter steigt, sind die Lebensfunktionen des Menschen in Gefahr: Zuerst stellen sich Krämpfe ein, dann versagen Organe und das führt schließlich zum Tod.
Mehr als zwei Grad darf auch die globale Oberflächentemperatur im Durchschnitt nicht ansteigen. Die Warnung der Klimaforschung ist dramatisch: Oberhalb von zwei Grad kommt es zu gefährlichen Verwerfungen im Wetter- und Klimasystem der Erde. Bei mehr als zwei Grad Erderwärmung wird es unerheblich, ob der Planetenbewohner Homo sapiens – umgangssprachlich: Mensch – vernünftig wird und Klimaschutz betreibt. Steigt die Globaltemperatur um mehr als zwei Grad, gerät das weltweite Wetter, die Trinkwasserversorgung, die Produktion von Nahrungsmitteln, ja die gesamte Wirtschaft aus dem Takt. Oberhalb einer Temperatursteigerung von durchschnittlich zwei Grad droht eine menschgemachte Hölle auf Erden.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat 16 Kipppunkte im Erd-Klimasystem genannt, die durch menschliche Einflüsse verändert werden und so ihre angestammte Funktion für das Wetter verlieren. Sie haben das Potenzial, dass sich die Klimaerhitzung verselbstständigen kann. Hier findest du eine Übersicht dieser Kipppunkte.
Das liegt an 16 sogenannten Kippelementen: Das sind Systeme im Weltklima, die bei steigender Globaltemperatur aus dem Gleichgewicht geraten. Die Permafrost-Böden sind zum Beispiel solch ein Kippelement: Unter der dauergefrorenen Erde Sibiriens, Nordkanadas und Alaskas ist milliardenfach Kohlenstoff eingesperrt. Taut der Boden auf, wird dieser Kohlenstoff zu einer Treibhausgasfracht aus Methan und Kohlendioxid, die vom Menschen nicht mehr aufzuhalten ist.
Noch hält die Eiskruste auf der Nordhalbkugel diese Klimakiller gefangen. Weil sich die Erderwärmung an den Polen aber deutlich schneller vollzieht als am Äquator, treibt uns jedes Zehntel höherer Temperaturgrad immer mehr der Katastrophe entgegen: Ein zwei Grad wärmeres Weltklima wird den Frostschutz tauen, die Treibhausgase aus dem Permafrost befreien und die Atmosphäre wie von selbst um weitere zwei Grad anheizen – auf dann vier Grad.
Jenseits von zwei Grad Temperaturanstieg wird auch der Amazonas-Regenwald, einer der größten Kohlendioxidspeicher der Welt, schwer geschädigt. Holz ist gebundenes Treibhausgas, denn ein Baum wandelt mittels Fotosynthese Kohlendioxid in Holzfasern um. Stirbt aber der Baum, wird dieses Treibhausgas wieder frei und reichert die Konzentration in der Atmosphäre unaufhaltsam weiter an. Der Mensch kann dann der heraufziehenden Katastrophe nur noch tatenlos zusehen.
Spätestens wenn die Oberfläche der Erde um durchschnittlich mehr als zwei Grad wärmer wird, fallen mindestens 16 solcher Kippelemente unumkehrbar um: Eisschilde schmelzen, Wettersysteme werden instabil, Treibhausgase, die heute noch die Natur speichert, werden ganz automatisch frei und heizen die Atmosphäre immer weiter und weiter an. Dann ist es egal, ob die Menschheit doch noch vernünftig wird und mit dem Klimaschutz beginnt: Die Klimaerhitzung wird sich unaufhaltsam verselbstständigen.
Allerdings können die Klimawissenschaftler lediglich zu zwei Dritteln garantieren, dass die Erde global zwei Grad Temperaturanstieg gerade noch verträgt. „Wir verstehen das Klimasystem keineswegs bis in jede Einzelheit, es verbleiben Unsicherheiten, zum Beispiel bei den Rückkopplungen in der Vegetation“, erklärt Andreas Fischlin, Professor für Systemökologie an der ETH Zürich und zuletzt Vizepräsident des Weltklimarates IPCC. „Rückkopplung“ bedeutet: Pflanzen speichern Treibhausgase, die Frage ist aber: Wie lange? Das Beispiel aus Amazonien verdeutlicht die Gefahr.
Professor Fischlin sagt: „Um sicher zu gehen, sollte der Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden.“ Denn dann – so die Wissenschaft – blieben die schweren Verwerfungen im weltweiten Wettersystem und seine Folgen mit großer Sicherheit aus: Flut-Tote, Dürren, untergegangene Inseln, Hunger- und Klimaflüchtlinge, Krieg um Wasserressourcen und sichere Siedlungsplätze.
Im Jahr 2015 hatten sich die Klimadiplomat_ innen deshalb mit dem Pariser Abkommen verpflichtet, den Temperaturanstieg deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Außerdem sollen „Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“, wie es im neuen Weltklimavertrag heißt. Wenn die Erderwärmung nämlich nicht über 1,5 Grad ansteigt, könnten „die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen erheblich verringert“ werden.
Im Sommer 2018 lag die Globaltemperatur bereits 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Das hat der britische Wetterdienst Met Office ermittelt. Stefan Rahmstorf, Forschungsbereichsleiter Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, sagt: „Die Erde wird derzeit wieder von Extremwetter heimgesucht, unter anderem extremer Hitze mit Bränden in Kalifornien und verheerenden Regenfluten in Japan. Durch die Erderwärmung sind häufigere und schlimmere Hitzewellen und Extremniederschläge physikalisch zu erwarten und Klimaforscher haben seit Langem davor gewarnt.“
Tatsächlich registrierte der Deutsche Wetterdienst in diesem Jahr eine Wetteranomalie nach der anderen. Dem wärmsten April seit Beginn offizieller Temperaturmessungen folgte der wärmste Mai, folgten eine extreme Trockenheit im Nordosten und schwere, unwetterartige Gewitter im Südwesten. Rekordregenmengen, vollgelaufene Keller und die Missernte – der Sommer 2018 gab schon einen Vorgeschmack auf die Änderungen, die auch auf uns in Deutschland zukommen.
Trotzdem kommt der Klimaschutz einfach nicht in Gang. Noch nie hat die Menschheit so viele Treibhausgase produziert wie im Jahr 2017: 32,5 Milliarden Tonnen. Statt zu sinken oder wenigstens konstant zu bleiben, stiegen die Emissionen wiederum um 1,4 Prozent. Auch in Deutschland wird nur geredet, statt zu handeln: 2017 lag die Treibhausgasproduktion in der Bundesrepublik auf dem Niveau von 2009 – bei 27 Prozent.
Was das für den Klimaschutz bedeutet, untersucht gerade der Weltklimarat IPCC: Noch in diesem Jahr wird das zwischenstaatliche Wissenschaftsgremium einen Sonderbericht vorlegen, in dem die Risiken einer mehr als 1,5 Grad Celsius wärmeren Welt beschrieben werden. Der Sonderbericht soll Anfang Oktober vorgestellt werden und auflisten, was getan werden müsste, um die 1,5-Grad-Schwelle nicht zu reißen.
Anders formuliert: Was ist notwendig, um die 100-prozentige Sicherheit zu erreichen, dass die Kippelemente nicht ins Wanken kommen? Im Entwurf hieß es lapidar: „Beim derzeitigen Tempo der Erwärmung wird die globale Mitteltemperatur in den 2040er-Jahren die 1,5-Grad-Schwelle erreichen.“ Übersetzt heißt das: Geht es so weiter wie derzeit, wird in 21 Jahren der Punkt erreicht, an dem die Menschheit die Chance vertan hat, die Kippsysteme im weltweiten Wetterkomplex zu sichern. Um die Globalerwärmung wenigstens auf zwei Grad zu begrenzen, müsste die Produktion von Treibhausgasen bis 2050 um 90 Prozent runter. Aktuell aber steigt sie.
„Natürlich kommt es nicht bei 2,01 Grad zum Weltuntergang, schon gar nicht schlagartig“, sagt Physiker Hans Joachim Schellnhuber, der bis zum Jahr 2016 die Bundesregierung als Vorsitzender des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ beraten hat. Mit der Zwei-Grad-Politik bleibt aber ein Risiko von 33 Prozent: Es könnte sein, dass einige Kippelemente dann bereits instabil geworden sind und die Erde mit anheizen.
Beispielsweise hat sich die Grenze des Permafrostes bisher bereits 100 Kilometer nach Norden verschoben: Der getaute Boden gaste aus. Was den Systemökologen Andreas Fischlin zu einem Vergleich mit dem Risiko von Bungeespringer_ innen verleitet: Würden die sich in die Tiefe stürzen, wenn die Gefahr, das Leben dabei zu verlieren, bei 33 Prozent liegt? „Wer tauchen geht oder wer raucht: Überall gibt es ein Risiko“, sagt Fischlin. Vermutlich hätten die Betroffenen das Risiko reichlich kalkuliert, bevor sie es eingingen. „Das Problem beim Klimawandel ist aber, dass wir als Gesellschaft anderen aufzwingen, welche Risiken sie eingehen sollen. Wenn man zehn Bungeespringer hat, die sagen, die ganze Gesellschaft soll hinterher springen, dann glaube ich nicht, dass alle anderen sagen: Das ist kein Problem. Aber genau das machen wir in der Klimadebatte.“
Deshalb rebellierten auch die besonders vom Klimawandel betroffenen Staaten gegen das Zwei-Grad-Ziel. Vor allem die „Allianz der kleinen Inselstaaten“ machte sich für ein 1,5-Grad- Ziel in der internationalen Klimapolitik stark. Ihr Motto: „Es geht nicht um Politik, sondern um Physik. Und Physik ist nicht verhandelbar.“
„Würde die Menschheit den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad begrenzen, wäre wohl sichergestellt, dass diese Kippelemente noch beherrschbar bleiben“, urteilt Mojib Latif, Meteorologe und Vorstandsmitglied des Deutschen Klima-Konsortiums. Allerdings hat Latif wenig Hoffnung, dass ein 1,5-Grad-Ziel noch einzuhalten ist. „Dafür müsste die Weltwirtschaft in den nächsten 20 Jahren komplett umgekrempelt werden“, sagt der Experte. Er erwartet, dass der Sonderbericht des Weltklimarates „dies auch ganz deutlich benennt.
Derzeit befindet sich die Welt eher auf einem Drei-Grad-Kurs.“ Und wie gesagt: 1,1 Grad mehr sind bereits geschafft. Trotzdem bleibe es wichtig, politische Ziele zu benennen – und zu verfolgen. Latif: „Ziele brauchen Vorreiter, weshalb es immens wichtig ist, dass Deutschland sein 40-Prozent-Ziel doch noch erreicht“. Weil es beim Abschalten alter Kohlekraftwerke auch um den indischen Monsun geht.
Nick Reimer